(nach: Der Mensch – Anatomie und Physiologie, Johann S. Schwegler)
Entwicklung der Immuntoleranz
Wieso lässt das Immunsystem körpereigene Zellen in Ruhe während körperfremde Zellen (z. B. Transplantate) teilweise sehr heftig attackiert und abgestoßen werden?
Die Immuntoleranz gegen körpereigenes Gewebe, also die Unterscheidung zwischen „körpereigen“
und „körperfremd“, entwickelt sich während der späten Fetalzeit und in den ersten Lebensmonaten (immunologische Prägung). Das Immunsystem nimmt an, dass in diesem frühen Lebensalter noch keine Infektion stattgefunden hat. Alle Moleküle, denen das Immunsystem begegnet, gelten daher als körpereigen!
Im Thymus (Abb. unten) lässt sich die immunologische Prägung tierexperimentell schön verfolgen: Junge T-Lymphozyten vermehren sich in der Thymusrinde und entwickeln die unterschiedlichsten Idiotypen, etliche davon auch gegen körpereigenes Gewebe. Im Zuge ihrer Reifung treten die entstehenden T-Lymphozyten einen gefährlichen Marsch in Richtung Thymusmark an, der vielen von ihnen das Leben kostet. Diejenigen Zellen, die sich an körpereigenes Gewebe binden, gehen während der Wanderung zu Grunde, indem sie mit den stark verästelten, sog. interdigitierenden Thymuszellen reagieren. Nur die nicht reaktiven Zellen, also die Idiotypen gegen (möglicherweise) körperfremde Antigene, überleben die Wanderung. Der eigentliche Trick ist dabei der, dass die autoreaktiven, also gegen eigenes Gewebe gerichteten Zellen keine Primärantwort auslösen, sondern einfach absterben. Eine derartige klonale Selektion findet auch im Knochenmark mit den reifenden B-Lymphozyten statt, hat dort jedoch offenbar eine geringere Bedeutung.
Übrigens, es gibt Zellen ohne MHC I und ohne MHC II. Es sind dies die Spermien sowie die fetalen Epithelzellen des Chorions. Einerseits präsentieren diese Zellen keine Antigene (MHC II fehlt). Andererseits muss ja um jeden Preis verhindert werden, dass T-Killerzellen diese immunologisch „fremden“ Zellen zerstören (kein MHC I); sonst könnte entweder keine Befruchtung stattfinden oder der Embryo würde bereits im Frühstadium abgestoßen werden.
Wie man sieht, „denkt“ das Immunsystem außerordentlich logisch!
Manchmal ist die Unterscheidung zwischen „fremd“ und „eigen“ auch für das so lernfähige Immunsystem schwierig. Körpereigene Zellen werden dann angegriffen und irrtümlich zerstört; es entsteht eine sog. Autoaggressions- oder Autoiummunkrankheit.
Einteilung der Immunreaktionen
Als Immunreaktion, besser Hyperimmunreaktion, bezeichnet man Zustände, die sich dadurch auszeichnen, dass das Immunsystem entweder zu stark oder auf unerwünschte Antigene reagiert (Abb. unten). Im Großen und Ganzen deckt sich der Begriff mit der Allergie, ist aber sehr viel allgemeiner, da Allergien nur als Überreaktionen auf körperfremde Antigene (Allergene) definiert sind.
Typ-I-Reaktionen
Typ-I-Reaktionen (Soforttyp, Anaphylaxie) kennzeichnen die klassischen Allergien wie Heuschnupfen, allergisches Asthma bronchiale, Neurodermitis u.v.m. Es handelt sich um eine Antigen-Antikörper-Reaktion, in deren Verlauf Entzündungsmediatoren die Gefäße weitstellen.
Typ-II-Reaktionen
Typ-II-Reaktionen (antikörpervermittelte Zytotoxizität) umfassen beispielsweise die Reaktion auf die Transfusion von Blut einer falschen Blutgruppe. Das Besondere ist hier, dass lösliche Antikörper auf der einen Seite mit Zellen auf der anderen Seite reagieren und diese schädigen.
Typ-III-Reaktionen
Typ-III-Reaktionen werden dadurch hervorgerufen, dass sich Antigen-Antikörper-Komplexe in Kapillaren und Basalmembranen niederschlagen und deren Funktion nach und nach beeinträchtigen. Typ-III-Reaktionen treten daher gehäuft bei langwierigen, chronischen Entzündungen, nicht selten nach Autoimmunkrankheiten auf (systemischer Lupus erythematodes, Alveolitis, Glomerulonephritis). Bis zur Entwicklung einer Typ-III-Reaktion bedarf es einer Zeitspanne von Wochen und Monaten.
Typ-lV-Reaktionen
Typ-lV-Reaktionen sind rein zelluläre Prozesse, an denen sich keine Antikörper beteiligen. Das bekannteste Beispiel ist das Kontaktekzem (z.B. gegen Nickelschmuck). Allerdings wird auch der Diabetes mellitus Typ I (insulinabhängiger Diabetes) durch eine Typ-IV-Reaktion gegen die körpereigenen Insulin produzierenden Zellen des Pankreas hervorgerufen.